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Der digitale Zwilling – die Zukunft der personalisierten Medizin?

BIH Visiting Professor Hans Lehrach war bereits einer der Köpfe hinter dem Humangenomprojekt. Seine neueste Idee ist es, einen digitalen Zwilling zu entwickeln, an dem Menschen wichtige Entscheidungen im Hinblick auf ihre Gesundheit testen können. Inwiefern diese Idee in der Medizin heute umsetzbar ist und was benötigt wird, um diese Entwicklung voranzutreiben, hat er uns im gemeinsamen Gespräch mit dem administrativen Vorstand des Berliner Instituts für Gesundheitsforschung (BIH), Dr. Rolf Zettl, erzählt.

Herr Professor Lehrach, Sie setzen sich seit vielen Jahren sehr engagiert für die internationale Vernetzung im Bereich der personalisierten Medizin ein. Was ist die Motivation dahinter?

Lehrach: Die Motivation stammt eigentlich aus dem Humangenomprojekt. Damals überlegten wir, wie wir das entschlüsselte menschliche Genom verwenden können, um die Medizin zu personalisieren – unter der Annahme, dass die Technologien noch besser werden. Daher verfolgen wir mit dem DigiTwins-Projekt den Ansatz, quasi ein Genomprojekt für jeden einzelnen Patienten anzubieten. In Computermodellen wollen wir auf der Basis digital gesammelter Daten Fehler bei der Therapieauswahl umgehen. Man würde ja auch kein Haus bauen, das beim ersten Windstoß zusammenfällt, sondern am Computer alle möglichen Gefahren berücksichtigen. Der einzige Bereich, in dem wir das nicht machen, ist die Medizin. Bei den meisten Medikamenten weiß man, dass sie nur bei einem Viertel der Patienten wirken. Außerdem sterben jährlich bis zu 200.000 Menschen aufgrund von Nebenwirkungen, allein in Europa. Außerdem kommt es nicht nur zu Verzögerungen in der Behandlung, sondern es entstehen auch enorme Kosten durch nichtwirksame Therapien. In unserem Projekt argumentieren wir, dass wir durch bessere individualisierte Prävention fast die Hälfte der 4,5 Milliarden Euro einsparen könnten, die wir in Europa pro Tag für unser Gesundheitssystem ausgeben. Diese Kosten steigen in Deutschland deutlich stärker an als das Bruttonationalprodukt. Man muss kein Wirtschaftswissenschaftler sein, um zu sehen, dass das in einer alternden Gesellschaft nicht haltbar ist. Was das Gesundheitssystem anbetrifft, sind wir dabei, die Liegestühle auf der Titanic neu zu arrangieren, statt uns über Eisberge den Kopf zu zerbrechen.

Wo sehen Sie die größte Herausforderung, um diesen Wandel in der Medizin voranzutreiben?

Lehrach: In allen anderen Bereichen ist die Entwicklung von Computermodellen längst etabliert: Virtual-Crash-Tests, Wettervorhersagen, Flugzeugmodelle...Diese Entwicklungen gab es natürlich nicht ohne beträchtliche finanzielle Zuwendungen. In der Medizin wurde das noch nicht erkannt. Dort werden nur Erneuerungen finanziert, die im Moment der Finanzierung bereits Kosten sparen. Bei der Solarenergie haben Entscheidungsträger verstanden, dass wir revolutionäre Entwicklungen nur dann wirkungsvoll und rasch umsetzen können, wenn wir den Prozess eine gewisse Zeit subventionieren. Hätten wir die Solarzellen nach dem Kostendeckungsprinzip der Medizin entwickelt, wären sie vielleicht zu Beginn des dritten Jahrtausends auf den Markt gekommen.

Hans Lehrach

Förderprogramm

BIH Visiting Professors

Förderzeitraum

2018 bis 2022

Vorhaben

DIGITWINS: Digital Twins for Better Health

Fachgebiet

Genetik

Institution

Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH)

 

Seit 2008 (2010)

Gründer und wissenschaftlicher Leiter, Alacris Theranostics GmbH und Dahlem Centre for Genome Research and Medical Systems Biology, Berlin

Seit 1994

Direktor (Emeritus) und Wissenschaftliches Mitglied am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik, mit dem wissenschaftlichen Fokus auf Genetik, Genomik und Systembiologie, Berlin

1987 bis 1994

Leiter der Abteilung „Genomanalyse“ des Imperial Cancer Research Fund, London, UK

Denken Sie, dass es eine gewisse Scheu gibt, da es in der Medizin um die eigenen, intimen Daten geht?

Lehrach: Ich denke eher, dass es eine Frage der Finanzierung ist, zumal einige Stakeholder von den 4,5 Milliarden Euro Gesundheitsausgaben ordentlich profitieren. Natürlich wollen diese nicht an einem System rütteln, von dem sie gut leben. Bis sie sicher sind, dass ein neues System ihnen finanziell genauso nützen wird, halte ich das für einen viel wichtigeren Entschleunigungsfaktor. Schwerkranke Patienten sind in erster Linie daran interessiert, die bestmögliche Behandlung zu bekommen, Datenschutz scheint bei solchen Patienten eher eine untergeordnete Rolle zu spielen. Natürlich halte ich den Datenschutz auch für wichtig, aber nicht auf Kosten der Qualität der medizinischen Behandlung...

Warum kommt die Digitalisierung der Medizin in Deutschland dennoch nur schleppend voran?

Lehrach: Ein großes Hindernis waren lange die Rechenleistungen der Computer, um die gesammelten Daten zu verarbeiten. Diese verbessern sich aber alle zehn Jahre tausendfach. Trotz Fortbildungen dauert es bei Menschen natürlich viel länger, ehe sie diesen Fortschritt auch nutzen können. Ein Arzt kann nicht sämtliche Algorithmen und molekularen Technologien kennen und verstehen.

Sind Ärzte, die mit den neuen Technologien aufgewachsen sind, schneller dafür zu gewinnen?

Lehrach: Ich denke, dass Ärzte anders mit der Digitalisierung umgehen, wenn sie die Entwicklungen von Anfang an mitbekommen haben. Wir haben Bereiche in der Medizin, die bereits enorm personalisiert sind.

In der Chirurgie hat der Arzt die Möglichkeit, sich über bildgebende Verfahren die genauen Begebenheiten bei einem Patienten anzuschauen. Ein Medikament hingegen beeinflusst molekulare Netzwerke im Patienten, in die der Arzt momentan gar keinen Einblick hat. Also hat er auch nicht die Fähigkeit, das Therapieansprechen vorherzusagen. Das ist so, als hätte man sich den linken Arm gebrochen und bekommt aber den rechten Arm eingegipst, weil in einem klinischen Versuch die Mehrheit der Patienten den rechten Arm gebrochen hatte und der Arzt nicht zwischen den Patienten unterscheiden kann.

Viele Forscher schätzen die Core Facilities am BIH. So können sie Aufgaben, die sie selbst nicht durchführen könnten, an erfahrene Experten übergeben. Herr Dr. Zettl, welche Rolle könnte das BIH in dieser Entwicklung in den kommenden Jahren spielen?

Zettl: Das BIH hat sich personalisierte Medizin auf die Fahnen geschrieben – und das ist im Grunde der Kern des DigiTwins-Projekts. Alle technologischen Plattformen, die wir am BIH aufbauen, sind im DigiTwins-Projekt eingebunden. Daher ist Herr Lehrach eine ideale Ergänzung für das Institut. Auch im Hinblick auf die Anwendbarkeit und den Patientennutzen ist es ein wichtiges Projekt. Es geht nicht darum, Daten in der Grundlagenforschung zu generieren, sondern Patientendaten in ein Modell zu füttern, um dieses zu personalisieren. So wird ein direkter Mehrwert für den Patienten geschaffen. Ich bin sehr froh, dass wir uns gemeinsam auf den Weg machen und dass die Stiftung Charité uns dabei unterstützt.

Herr Lehrach, wie oft sitzen Sie denn selbst am Computer?

Lehrach: Ich mache vieles selbst: Datenanalyse, Modellierungen… Gleichzeitig versuche ich, das Projekt mit über 200 Partnern in die richtige Richtung zu lenken. Zwischendurch beschäftige ich mich mit einigen Grundsatzfragen, die wir noch klären müssen. Der momentane Stolperstein ist die Tatsache, dass die Computersysteme bestimmte Parameter brauchen, beispielsweise, wie schnell Reaktionen in einem bestimmten Gewebe ablaufen. Diese Informationen sind aber nicht verfügbar. Wir können allerdings einige Parameter als gegeben annehmen, anhand derer wir virtuelle Proben generieren. In Modellen mit diesen Proben können wir am Ende schauen, ob wir Datensätze ableiten können, welche die ursprünglich angenommenen Parameter bestätigen.

Also High-End Computerspiele für Wissenschaftler…Bis wann wollen Sie den ersten digitalen Zwilling erstellt haben?

Lehrach: Dabei kommt es natürlich auf die Fragestellung an. Wir sind relativ nah daran, realistische Zwillinge von Tumoren zu generieren. Diese müssen wir natürlich mit anderen Informationen anreichern. Wenn ein Patient Medikamente schluckt, entscheidet sein Mikrobiom, was damit passiert. Eigentlich müssten wir also sein Mikrobiom charakterisieren, um vorauszusagen, wie das Medikament wirkt. Die Pharmakogenetik erlaubt es heutzutage, aus dem Genom des Patienten abzuleiten, welche Prozesse in der Leber ablaufen werden. Man kann also bei der Behandlung eines virtuellen Patienten auch die Nebenwirkungen testen. Ebenso wichtig wäre es, das Immunsystem eines Patienten zu charakterisieren. Wenn Sie auch noch den Herz-Kreislauf berücksichtigen wollen, müssen Sie zusätzliche Daten über die Physiologie des Herzens oder den Blutkreislauf erheben. Der digitale Zwilling muss deshalb pragmatisch Anwendung für Anwendung erweitert werden.

Wenn man das zu Ende denkt, bekommt dann irgendwann jedes Neugeborene einen Digital-Twin, um zukünftige Lebensentscheidungen zu treffen?

Lehrach: Eigentlich sollte es sogar schon vor der Geburt möglich sein, das Genom des Kindes zu sequenzieren und entsprechende Maßnahmen einzuleiten.

Wollen die Eltern so etwas denn immer wissen?

Lehrach: Solange man etwas machen kann, wollen sie es in der Regel wissen. Anders ist es, wenn man sowieso nichts machen kann.

Herr Zettl, war es Ihr Ziel, mit einem solchen Projekt auch der breiteren Öffentlichkeit zu zeigen, wie ihr die Gesundheitsforschung zu Gute kommt?

Zettl: Der Auftrag des BIH ist es, Innovation zum Patienten zu bringen. Für bahnbrechende Nature-Artikel zu Mausmodellen gibt es andere Akteure in der Stadt, die in diesem Bereich exzellente Forschung machen. Ein Projekt, das europaweit Spitzentechnologien und -forscher zusammenbringt, ist für uns ein Transmissionsriemen und ein Enabler, um die Visionen, die wir hier haben, auf die Straße zu bringen.

Bis es an den Patienten kommt, ist es aber ein langer Weg. Wie behält man dabei das Durchhaltevermögen?

Lehrach: Wir verwenden die Konzepte bereits bei der Behandlung von Krebspatienten – wenn auch noch lange nicht im kompletten Umfang. Wir haben sowohl in Forschungsprojekten als auch in einer Ausgründung Patienten, die mit den neuesten Technologien untersucht und dadurch sicher oft besser therapiert werden. Diesen Ansatz verfolgen wir in der molekularen Tumorpathologie an der Charité.

Also kommen einige Patienten bereits in den Genuss personalisierter Medizin. Aber wie ist der gegenwärtige Stand für Patienten, wenn sie nicht an die richtige Klinik geraten oder in der falschen Stadt wohnen?

Lehrach: Momentan lesen oder hören Patienten in Zeitschriften oder im Fernsehen von personalisierten Konzepten und kontaktieren daraufhin uns oder andere Start-Ups. Da es nicht von den Krankenkassen finanziert wird, ist das Konzept natürlich noch nicht sehr verbreitet. Zum Glück sinken die Kosten solcher Behandlungen. Ohne Frage müssen wir versuchen, diese Angebote über die Krankenkassen zugänglich zu machen. Wir sind optimistisch, dass wir die Krankenkassen überzeugen können.

Wenn es darum geht, welche Leistungen die Krankenkassen übernehmen, kommt es also darauf an, wer die beste Überzeugungsarbeit leistet?

Genau. Aber wir haben extrem gute Argumente – und hoffentlich bald noch bessere Chancen, damit möglichst viele Menschen zu erreichen.

Oktober 2018 / MM