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Mutationen, freie Software, Speed-Dating und andere ungelöste Probleme

Herr Professor Seelow, stellen Sie sich vor, Sie sind in Rente und blicken auf Ihr Leben als Forscher zurück. Was möchten Sie erreicht haben?

Niemand weiß so richtig, wie das menschliche Gehirn funktioniert. Man kennt Teilmechanismen, aber vieles bleibt unklar. Es ist faszinierend, wie viel wir uns merken können. Überlegen Sie, wie viel Speicherplatz es bräuchte, ein ganzes Leben, in Farbe und mit Ton, auf einer Festplatte zu speichern. Aber das Gehirn ist im Stande, unterbewusst das Relevante herauszufiltern. Ich fände es reizvoll, zu erkennen, wie diese Mechanismen funktionieren – vor allem pathophysiologisch, wenn es eben nicht regulär funktioniert. Ich hoffe, dass ich dazu beitragen kann, komplexe Krankheiten wie Schizophrenie besser zu verstehen, indem man genetische Muster und Mechanismen aufdeckt. Dadurch kann man dann Rückschlüsse ziehen, wie das Gehirn als solches funktioniert.  

Und woran arbeiten Sie derzeit?

Ich schreibe Software für die Erforschung monogener Erkrankungen. Das sind Krankheiten, die von Mutationen in einem einzelnen Gen ausgelöst werden, beispielsweise Mukoviszidose oder Chorea Huntington. Diese Krankheiten lassen sich leichter betrachten als komplexe Erkrankungen wie Diabetes oder Schizophrenie, bei denen neben der genetischen Komponente auch Umwelteinflüsse eine Rolle spielen.

Was macht und kann Ihre Software denn genau?

Wenn man das Genom eines Menschen komplett sequenziert, findet man durchschnittlich etwa 3 Millionen Varianten, also Abweichungen von der veröffentlichen DNA-Sequenz des Humangenoms. Eine Veränderung innerhalb eines Genes kann beispielsweise dazu führen, dass ein Protein zu kurz ist und deshalb nicht mehr funktioniert.  Die meisten Varianten sind jedoch harmlos. Um herauszufinden, welche Veränderungen möglicherweise eine Krankheit auslösen und welche man sich deshalb genauer im Labor ansehen sollte, entwickelt unsere Arbeitsgruppe für Ärzte und Wissenschaftler Software. Diese hilft ihnen, aus dieser Masse an potentiellen Auslösern die wichtigen herauszufiltern. Außerdem versuchen wir in einem weiteren Projekt, die Krankheitsrelevanz von Varianten außerhalb von Genen einzuschätzen. Auch eine Veränderung außerhalb eines Genes kann dazu führen, dass dieses nicht mehr abgelesen und die Funktion der Zellen dadurch gestört wird.

Wie kamen Sie dazu?

Ich habe Biochemie studiert und schnell festgestellt, dass ich nicht mein ganzes Leben im Labor verbringen will. Mir fiel immer wieder auf, dass die Hauptproblematik bei wissenschaftlichen Vorhaben häufig nicht in der Datengewinnung, sondern in der Datenanalyse lag. Es kam regelmäßig zu Problemen in der Kommunikation zwischen Informatikern, Naturwissenschaftlern und Ärzten. Die Informatiker wussten nicht, was von ihnen erwartet wurde und konnten demzufolge auch nichts programmieren, das die Probleme gut gelöst hätte.

Dominik Seelow

Förderprogramm

BIH Delbrück Fellows

Förderzeitraum

2016 bis 2018

Vorhaben

Entwicklung von Software zur Aufklärung monogener Krankheiten durch Gesamtgenomsequenzierung

Fachgebiet

Bioinformatik, Genetik

Institution

Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH) und Charité – Universitätsmedizin Berlin

 

Seit 2018

BIH Professor für Bioinformatik und translationale Genetik an der Charité -– Universitätsmedizin Berlin und am Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH)

2016 - 2018

BIH Delbrück Fellow am NeuroCure Clinical Research Center der Charité -– Universitätsmedizin Berlin

2009 - 2018

Leiter der Bioinformatikgruppe in der Forschungsgruppe "Entwicklungsstörungen des Nervensystems" am NeuroCure Clinical Research Center der Charité -– Universitätsmedizin Berlin

Dies führte dazu, dass sich Projekte enorm verzögerten, weil es keine passende Software gab, um sie auszuwerten. Mir wurde klar, dass ich an dieser Stelle etwas bewegen kann, indem ich mein Biochemiestudium mit meiner Leidenschaft für das Programmieren verbinde.

Woher haben Sie als Biochemiker denn Informatikkenntnisse?

Ich hatte schon in den 80er-Jahren meinen ersten Computer, einen Sharp. Für den gab es keine Software, nichts. Um etwas mit diesem Computer machen zu können, musste man es selbst programmieren – also habe ich es versucht. In der 13. Klasse hatte ich dann noch einen sehr guten Informatikkurs, den Rest habe ich mir nach und nach angeeignet.

Wer kann Ihre Software nutzen?

Mir ist es wichtig, Software zu schreiben, die ohne Hürden von allen verwendet werden kann und deshalb wirklich zur Lösung eines Problems beiträgt. Dass diese Software frei zugänglich und kostenlos ist, ist für mich daher etwas Essentielles. Ich bin Vollblutwissenschaftler und die Vorstellung, meine Forschungsergebnisse nicht zu teilen, erscheint mir so absurd, dass ich es gar nicht in Erwägung ziehe.

Forschende der Charité, die eine Software brauchen, können also einfach auf Sie zukommen?

Im Grunde, ja. Das Problem ist, dass dies nicht institutionalisiert und vieles hier Zufall ist. Es passiert leider häufig, dass selbst innerhalb der Charité viele Arbeitsgruppen nicht über die Existenz und die Arbeit anderer Gruppen informiert sind.

Es müsste mehr Vernetzungsangebote geben, eine Art Speed-Dating für Arbeitsgruppen zum Beispiel, wodurch Überschneidungen und mögliche Kooperationsfelder gefunden werden könnten.

Wollten Sie schon als Kind Forscher werden?

Nein, ich wollte natürlich zur Eisenbahn - und dann zur Müllabfuhr. Erst danach kam die Forschung. Als Kind hört man ja ganz oft: „Das verstehst du noch nicht“. Ich finde, das ist das Dümmste, was man einem Kind sagen kann. Dann muss man sich mehr Mühe geben, es dem Kind zu erklären. Das ist es, was mich wirklich antreibt. Ich bin nicht bereit, mich damit abzufinden, dass ich, oder, dass man bestimmte Dinge nicht versteht. Deshalb versuche ich, meine Software so zu schreiben, dass jeder sie bedienen kann. Ich möchte den Fachleuten ein verständliches Werkzeug an die Hand geben, um ihre Probleme selbst zu lösen. Durch die Zusammenarbeit mit den Ärztinnen und Ärzten ergeben sich immer neue Fragestellungen und somit neue Probleme, die ich dann lösen kann. Mir ist es ebenfalls wichtig, Pläne den Anforderungen anzupassen – dadurch wird es nie langweilig.

Juli 2017 / TO und MM