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Auf der Suche nach dem heiligen Gral der Medikamentenentwicklung

Selbst ist die Frau: Die amerikanische Biochemikerin Martha Sommer hat im Protein Arrestin ihre Nische als Forscherin entdeckt und kurzerhand als BIH Delbrück Fellow an der Charité eine eigene Arbeitsgruppe gegründet. Die Mutter zweier Kinder schätzt ihre Unabhängigkeit im Labor und sieht die Gesellschaft in der Pflicht, auch Frauen mit Kinderwunsch eine Perspektive in der Wissenschaft zu bieten.

Frau Sommer, wenn Sie in diesem Interview nur eine Nachricht an die Welt außerhalb des Labors loswerden könnten, welche wäre das?

Mir liegt die Förderung von Frauen in der Wissenschaft sehr am Herzen.Mehr als die Hälfte aller Studienabschlüsse werden von Frauen erlangt, von den Postdoktoranden sind dann vielleicht noch 30 bis 40 Prozent weiblich und in der Gruppenleitung findet man schließlich kaum noch Frauen – in meiner Abteilung bin ich die Einzige. Der Hauptgrund ist immer noch, dass viele Frauen es nicht schaffen, neben der Familie gleichzeitig ihre Karriere anzutreiben. Viele sind sich des Problems bewusst und es gibt auch Männer, die mit damit konfrontiert sind, doch nur wenige sprechen es öffentlich an. Es ist die Aufgabe der gesamten Gesellschaft, diese Ungleichheit zu bekämpfen. Allerdings macht es mir Hoffnung, dass sich die Gesellschaft stetig im Wandel befindet. Hätte meine Großmutter einem Beruf nachgehen wollen, gab es damals drei Optionen: Lehrerin, Sekretärin oder Krankenschwester. Wissenschaftlerin? Das wäre ihr niemals in den Sinn gekommen. Im Laufe dreier Generationen hat sich also bereits einiges getan. Nun liegt es an uns, diesen Wandel fortzuführen.

Was fasziniert Sie an der Wissenschaft?

Ich liebe alle Wissenschaften, doch am meisten fasziniert mich die Biologie. Auf den Grundprinzipien der Wissenschaft basierend schafft sie Zellen, Leben und Organismen. Eigentlich strebt alles auf dieser Welt die Unordnung an und es bedarf großer Energie, sie zusammenzuhalten. Letztendlich ist das Leben also ein Kampf gegen die Entropie: eine kontinuierliche Anstrengung und Energieaufwendung, um uns in einem organisierten Zustand zu halten. Wir haben einen Körper, ein Bewusstsein, Ziele und Gefühle – nur aufgrund dieser Zellen. Im Endeffekt beruht alles auf den Gesetzen der Chemie und Physik.

Woran arbeiten Sie selbst in Ihrer Arbeitsgruppe?

In meiner Arbeitsgruppe untersuchen wir sogenannte G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (GPCR). Über 800 verschiedene Typen dieses Rezeptors befinden sich im menschlichen Körper und sind an fast allen physiologischen Prozessen beteiligt – am Sehen, Hören, Schmecken und an der Regulierung des Herzschlags. Mein Schwerpunkt liegt auf dem Protein Arrestin, das an diesen Rezeptor bindet. Seine klassische Funktion ist es, durch Binden des Rezeptors das G-Protein zu blockieren. Es kann aber auch bewirken, dass der Rezeptor in einem Bläschen in die Zelle transportiert wird.

Martha Sommer

Förderprogramm

BIH Delbrück Fellows    

Förderzeitraum

2016 bis 2021

Vorhaben

Strukturelle und funktionelle Analyse von Arrestin-GPCR-Komplexen

Fachgebiet

Biophysik

Institution

Charité – Universitätsmedizin Berlin

 

Seit 2013

Leiterin der Arbeitsgruppe “Arrestin“, Institut für Medizinische Physik und Biophysik, Charité – Universitätsmedizin Berlin

2007 bis 2013

Postdoktorandin, International Research Fellowship der National Science Foundation (USA), Institut für Medizinische Physik und Biophysik, Charité – Universitätsmedizin Berlin

2000 bis 2006

PhD, Department of Biochemistry and Molecular Biology, Oregon Health and Science University, USA

Außerdem wirkt es selbst als Signalprotein, indem es andere Proteine zusammenbringt. Arrestin hat also eine komplexe biologische Funktion und ich erforsche seine Interaktion mit dem Rezeptor.

Wofür braucht unser Körper das Arrestin?

Arrestin ist in jeder Zelle des Körpers vorhanden, sonst gäbe es kein Leben. Dennoch wissen wir wenig über seine Funktion, da diese so vielfältig ist. Die Struktur des Proteins muss äußerst komplex sein, damit es so viele verschiedene Funktionen erfüllen kann. Wir wollen herausfinden, wie dies aus molekularer Sicht überhaupt möglich ist. Dafür untersuchen wir das visuelle System und nutzen die Stäbchenzellen des Auges als Modellsystem, welche für das Nacht- und Dämmerungssehen verantwortlich sind. Der GPCR des visuellen Systems kann durch Licht aktiviert werden, was nützlich für Experimente ist. Ich markiere bestimmte Teile des Arrestins mit fluoreszierender Farbe und kann so die Interaktionen und Bewegungen des Arrestins beobachten.

Glauben Sie, dass Ihre Forschungsergebnisse auf andere Gebiete übertragen werden können?

GPCRs sind für viele Forschungsdisziplinen relevant, da sie im Körper eines der Hauptziele für Medikamente sind. 30 bis 50 Prozent aller Pharmaka wirken über sie, beispielsweise Betablocker und antipsychotische Medikamente. Diese Medikamente können Abhängigkeiten und Nebenwirkungen auslösen, die wahrscheinlich mit der Funktion des Arrestins zusammenhängen. Wenn die Wirkstoffe an den Rezeptor andocken, bindet Arrestin auf eine Weise, die zu unerwünschten Effekten in der Zelle führt.

Idealerweise sollten also Wirkstoffe entwickelt werden, die den Rezeptor binden, ohne gleichzeitig das Arrestin anzuregen – der heilige Gral der Medikamentenentwicklung. So lange wir nicht wissen, wie Arrestin auf der molekularen Ebene funktioniert, bleibt die Entwicklung solcher Wirkstoffe unwahrscheinlich.

Haben Sie konkrete Ziele, die Sie in den nächsten Jahren als Forscherin erreichen wollen?

Eigentlich setze ich mir keine Ziele, sondern nehme die Möglichkeiten, wie sie kommen. Die Arbeit im Labor ist für mich wie Spielzeit, deshalb möchte ich weiterhin auch selbst forschen. Dennoch genieße ich auch das Schreiben.

Dass Sie nicht nur Möglichkeiten wahrnehmen, die zu Ihnen kommen, sondern Sie auch aktiv schaffen, zeigt die Gründung Ihrer eigenen Arbeitsgruppe. Vielleicht kommen Sie ja mit Ihrem aktuellen Projekt dem heiligen Gral der Medikamentenentwicklung etwas näher und legen so die Grundlagen für weitere Forschungsprojekte?

Die Förderung als BIH Delbrück Fellow eröffnet mir die Möglichkeit, Optionen zu erkunden, zu Konferenzen zu gehen und mit interessanten Forschungsgruppen zu sprechen. Sie macht mich unabhängig und hat mir eine eigenständig finanzierte Stelle ermöglicht. Die Förderungszeit über fünf Jahre ist großzügig, aber auch realistischer, um innovative Forschungsprojekte zu entwickeln. Die meisten Fellowships laufen über zwei oder drei Jahre. Für ein innovatives Forschungsprojekt reicht das nicht aus – erst bei fünf Jahren kann man etwas riskantere Projekte wagen. So hat man genug Zeit, auch Experimente weiterzuentwickeln, die anfangs nicht funktionieren. Was danach kommt, weiß ich noch nicht. Aber am Arrestin gibt es noch einiges zu entdecken und ich habe lange nicht alle Fragen beantwortet, die mir noch unter den Nägeln brennen.

Dezember 2017 / MM